Mitternachtsgedanken

Es ist beeindruckend. Schon seit Wochen war stand fest, dass hier dieses Jahr keine Silvesterraketen und Co. verkauft werden dürfen. Wo kommen die jetzt alle her? Irgendwo im Internet bestellt? Im Ausland gekauft? Haben die alle, für den Fall, dass es im nächsten Jahr keine zu kaufen gibt, einen Vorrat vom letzten Jahr – es könnten sich ja auch Umweltschützer oder sonst irgendwelche Gruppen durchsetzen, muss ja keine Pandemie sein…?

Offensichtlich ist dieser Brauch von Feuer und Lärm, womit die bösen Geister vertrieben werden sollen, vielen Menschen besonders wichtig. Vielleicht ist er, wenn man dem Aberglauben vertraut, auch dieses Jahr tatsächlich so bedeutsam und wirkungsvoll. Weil in 2020 so viele böse Geister ihr Unwesen getrieben haben.

Nur waren diese bösen Geister nicht eigentlich wir selbst?

Wir leben in einer merkwürdigen Welt. Auf der einen Seite entfernen wir uns immer mehr voneinander. Familien leben im ganzen Land oder sogar auf der ganzen Welt verteilt. Statt selbst unsere Verwandten zu pflegen, machen das Pflegekräfte in Heimen und ambulanten Pflegediensten. Unsere Kontakte scheinen insgesamt viel weniger intensiv zu werden. Irgendwie kennen wir viele Nachbarn gerade einmal vom Sehen her und gleichzeitig kennen wir viel mehr Menschen, haben deutlich mehr Kontakte. Quantität vor Qualität?

Globalisierung ist toll. Unser Bewegungsradius wird immer größer. Wer die Welt entdecken möchte, der kann das machen. Bezahlbar ist es für viele. Und wer dafür kein Geld hat, spart sich vielleicht einfach mal in einem Jahr das Silvesterfeuerwerk und dann passt das schon? Polemik. Steht mir nicht, und stehe ich auch nicht durch sobald jemand nachbohrt. Also lasse ich das lieber.

Wie oft habe ich in den letzten Tagen gehört, dass sich jemand so sehr auf 2021 freut. Und mich auch selbst bei solchen Gedanken erwischt. Darauf, dass 2020 mit all seinen Gespenstern endlich vorbei ist. und darauf dass 2021 die Rettung bringt. Die Normalität zurück bringt. Ich glaube nicht. Und ich wahrscheinlich hoffe ich sogar, dass nicht.

Diese Pandemie, mit ihre schnellen und weiten Verbreitung, die ist von uns gemacht. Von uns Menschen. Und so sehr ich mir wünsche, es wäre nur wie eine normale Grippe: inzwischen sollte wohl jeder verstanden haben, dass es nicht so ist. 25k Tote in der Grippesaison 2018 – wenn das so weitergeht, haben wir 25k Tote in den ersten beiden Corona-Wochen 2021. Nein, es ist sicher keine normale Grippe. Und diese Zahlen haben wir trotz des Lockdowns.

Vielleicht bringt uns 2021 mit den Impfungen und dem nächsten Frühjahr unserer gewohnten Normalität wieder näher. Schön wäre das. Aber auch nachhaltig? Kann nicht auch jeder andere Krankheitserreger im nächsten Winter derart mutieren und uns die nächste Pandemie bringen? Wie gehen wir dann damit um? Ein neuartiges Noro-Virus, neuartiges Grippevirus, neuartiges irgendwas-Virus. Ich bin keine Virologin. Ich arbeite auch schon lange nicht mehr im Krankenhaus und noch länger nicht mehr in der Somatik. Und auch wenn das Thema wissenschaftlich sicher sehr viel komplexer ist und nicht jedes Virus „einfach so mutiert“, unsere Grippeimpfungen jedes Jahr an die bekannten Mutationen angepasst werden usw.: geht es wirklich „back to normal“?

Ich fürchte, mit der Einstellung „2021 wird alles wieder gut“ werden wir unfassbar enttäuscht sein. Es wird besser. Wenn wir es besser machen. Dafür müssen wir aber handeln. Und als ich hier gerade allein auf meinem Balkon stand, waren auf einer kleinen Dachterrasse eine Straße weiter 20-30 Menschen zusammen und haben laut gefeiert. Wasser predigen, Wein trinken. Ende Oktober haben wir selbst mit etwa 10 Personen den 60sten meiner Mama gefeiert. Richtig war das nicht.

2020 war ein krasses Jahr. Und ein lehrreiches. Es hat uns viel gezeigt. Es hat uns dabei unterstützt Prioritäten zu setzen. Wen möchten wir sehen? Was sind wir bereit dafür zu tun? Wen möchten wir schützen? Wie können wir uns gegenseitig unterstützen? Wie viel müssen wir tatsächlich reisen? Sicher mehr, als im Frühjahr. Das, was letztes Jahr passiert ist, hat vieles kaputt gemacht. Gerade im Tourismus- und Gastronomiesektor. Das, was wir getan haben. Denn es ist ja nicht einfach „passiert“. Es wurden Entscheidungen getroffen.
2020 hat der Natur die Gelegenheit gegeben uns zu zeigen, dass es nicht zu spät ist, sie zu schützen. Sie kann aufatmen, wenn wir sie lassen. Und wir können dann durchatmen! Wenn wir wollen. Aber ist das mit der alten Normalität vereinbar?

2021. Machen wir das Beste draus.

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