Das krasseste Jahr

2020.

Eigentlich könnte ich diesen Artikel abkürzen. Es so stehen lassen.

Foto: Tanja Weber Fotografie | tanja-weber.net

2020 ist wohl für die meisten Menschen ein besonderes Jahr. Ein Jahr mit Verlusten, Einschränkungen, Entbehrungen. Großen Veränderungen. Zusammengefasst ist es wohl ein echt mieses Jahr. Eins, das uns unsere Grenzen aufzeigt.

Für mich ist es das krasseste Jahr meines Lebens. Seit ich Laufen und Sprechen gelernt habe.

Und genau das ist es irgendwie auch. Das Laufen lernen. Und das Sprechen lernen. Als hätte ich das vorher nicht wirklich getan.

Das letzte Jahr endete mit einer Entscheidung. Für den Froschkönig, gegen „Familie“, oder treffender: Nachwuchs. Und diese Entscheidung hat er dann im Januar infrage gestellt. Weil er nicht wollte, dass ich für ihn darauf verzichte. Hätte ich nicht getan. Ich hätte andere Strategien für meine Bedürfnisse gefunden. Bedürfnisse wie Nähe und Wirksamkeit. Wie es mit uns beiden weitergehen würde war völlig unklar. Bleiben wir ein Paar? Freunde? Friends with benefits? Nur eins war sicher: es wird nicht so weiterlaufen wie bisher. Es wird sich etwas verändern. Verändern müssen. So waren wir beide nicht zufrieden: ihm fehlte etwas und mir auch. Ich wusste nicht, wo es für mich hingehen würde. Wie ich meine Bedürfnisse erfüllen sollte. Hatte keine Vision mehr von meinem eigenen geschweige denn unserem gemeinsamen Leben. Weder Klarheit noch Sicherheit.

Mitten in diese Unsicherheit kam dann eine Erkrankung. Was auch immer da los war: am Rosenmontag haben mich die Flugbegleiterinnen – wie sie sagten – unter dem Sitz hervorgeholt. Und direkt beim Kunden wurde mir dann wieder schwindelig – dabei hatte ich doch einen Termin um 10 Uhr! Die Vernunft hat gesiegt, ich wurde zum Arzt begleitet und habe 2,5 Tage komplett im Hotel verbracht. Liebe Kolleg*innen haben mich mit Obst, Tee und Honig versorgt. Und was das los war, weiß kein Mensch. Ab Dienstag fühlte es sich an, wie eine schwere Erkältung. Auch den berühmten Geruchs- und Geschmacksverlust hatte ich am Ende der Woche. Aber den kenne ich von nahezu jeder Erkältung. Auch wenn ich mir wünsche, dass es nicht so ist: vielleicht war es Corona. Schließt eigentlich noch irgendwer aus, dass der Kram auch schon an Karneval im Aachener Raum unterwegs war?!

Corona. Seit dieser Erkrankung beherrscht Corona unseren Alltag. Oder COVID-19 oder wie auch immer ihr diese Erkrankung gerne nennen möchtet – jeder, der sich der heutigen Geschehnisse bewusst ist, weiß was ich meine.

Und genau das hat mich zu einer mutigen Entscheidung animiert: nachdem ich wieder eine Woche gesund in Berlin war und sich der „Lockdown“ ankündigte, war es keine Option mit dem Froschkönig unbestimmte Zeit im Homeoffice zu verbringen. Das hat in der Vergangenheit schon eher schlecht als recht funktioniert, wenn nur einer von uns beiden arbeiten musste. Also bin ich an dem Wochenende, an dem in Köln alle Restaurants schließen mussten ohne Rückflug nach Berlin geflogen. Und habe drei Wochen oder länger im Hotel gelebt. Meine Kolleg*innen sind am dem Montag nicht mehr angereist.

Es war Frühling. Berlin war wie ein riesiges Freilichtmuseum. Aber irgendwie außerhalb der Öffnungszeiten. Und wer möchte das nicht mal erleben: durch ein sonst völlig überfülltes Museum komplett allein laufen? Stehen bleiben. Staunen. Die Sonne genießen.
Im 5-Sterne-Hotel einer von zwei Gästen sein. In einer wunderschönen Suite wohnen? Ein Traum!

Zumindest in den ersten anderthalb Wochen. Dann musste nicht nur das morgendliche Frühstück, das schon längst à la carte serviert wurde, sondern auch der Roomservice eingestellt werden. Die Küche hat komplett geschlossen. Das Frühstück – für mich war das im Intercontinental immer ein absolutes Highlight – wurde jetzt in einer Tüte ins Zimmer geliefert. Die Standardvariante waren ein oder zwei belegte Brötchen, ein Lachssandwich, ein hart gekochtes Ei und ein paar süße Teilchen. Das war mir definitiv zu weißmehllastig und auch zu tierisch. Also habe ich 2 Wochen lang Obstsalat, Haferflocken, getrocknete Cranberries, Walnusskerne, Chiasamen und gepufften Quinoa mit Sojaghurt bekommen. Dazu Beuteltee, der leider nicht annähernd so lecker war wir der Sencha oder der Jasmintee am Buffet.

Und nicht zuletzt, weil das immer gleiche Frühstück aus der Tüte nach 2 Wochen echt langweilig ist, habe ich dann wieder eine Entscheidung getroffen. Erstmal mit Netz und doppeltem Boden: ich bin in eine Projektwohnung gezogen. Also fast eine eigene Wohnung in Berlin. Weit weg von Zuhause. Mit der Option wieder ins Hotel zu gehen sobald meine Kollegin, die sich diese Wohnung eigentlich ausgesucht hatte, aber den ersten Lock Down bei ihrer Familie in München verbracht hat, wieder nach Berlin kommt.
Und es war überraschend großartig!

Mit dieser Wohnung in der Ackerstraße verbinde ich wirklich das Gefühl von Freiheit. An diesem ersten Aprilwochenende habe ich mich endgültig in Berlin verliebt. Und bin seitdem so zerrissen wie selten zuvor. Ich liebe diese Stadt. Vollkommen verrückt. Denn wenn ich ehrlich bin, auch heute, 7 Monate später, kenne ich sie doch gar nicht. Ist es nicht völlig irrational, sich in etwas zu verlieben, das man nicht kennt?

Bis Ostern war ich komplett in Berlin und als ich dann wieder zuhause war, kam Klarheit in die Thematik mit dem Froschkönig. Ich möchte nicht warten. Keine Unsicherheit mehr. Ich brauche enorm viel Sicherheit. Und die hatte ich nicht mehr. Und nachdem wir nochmal gesprochen haben war klar, der einzige Weg diese Sicherheit wieder zu erlangen ist ein klares Ende. Und auch wenn das ein Prozess über mehr als ein halbes Jahr – oder vielleicht sogar noch länger war: es tat weh. Es ist egal, wie lange man sich auf so etwas vorbereitet, wenn es dann passiert tut es weh.

Einen Monat später habe ich dann mein Glück mit einer Dating-App versucht. Und darüber ein paar interessante Erfahrungen gemacht. Mir sind dabei unterschiedlichste Männer begegnet, z.B.:

  • einer, der alles extrem macht
  • einer, der alles schlecht redet, und am meisten sich selbst
  • einer, der findet, dass öffentliche Einrichtungen und Behörden keine Unternehmensberater beauftragen sollten
  • einer der stundenlang über seine Reiseerlebnisse sprechen kann
  • einer, der mir viel über „die ostdeutschen Frauen“ beigebracht hat
  • einer, der total bodenständig ist und gerne Familienpapa wäre, mir dann aber das erste Dick Pic geschickt hat

Auch ohne App hatte ich ein Date. Aber auch wir passten nicht zusammen.
Nach 4 Monaten habe ich das Thema Dating vorerst zurückgestellt. Es war vielleicht auch einfach zu früh. Geblieben ist mir aus dieser Zeit eine Freundin. Nicole. Sie habe ich auch über eine dieser Apps kennengelernt. Da gibt es nämlich auch eine „BFF-Funktion“ mit der man eben einfach nur Freunde finden kann. Und Nicole ist großartig. Sie weiß genau wer sie ist, was sie will und sagt das auch. Sie ist Feministin, sagt auch das und mir ist nicht zuletzt durch sie klar geworden: ich bin auch Feministin. War es immer und das ist genau richtig so.

Bei aller Liebe für Berlin und trotz der Kontakte, die ich bereits knüpfen konnte, fühle ich mich hier dennoch häufig einsam.

Wie einsam ich tatsächlich bin, habe ich dann wohl im September erlebt. Als es in meiner Straße ein Gasleck gab und ich nicht zurück in meine Wohnung konnte. Es hat eine ganze Weile gedauert, bis ich zwei Leute erreicht habe, die mir Sofa und Isomatte angeboten haben. Am Ende wurde es dennoch eine Nacht im Hotel, denn einer der beiden hat mich daran erinnert, dass ich ja Punktemillionärin bin.

Das so aufzuschreiben kann gar nicht verdeutlichen, wie krass dieses Jahr für mich ist. Es klingt doch eigentlich so, als hätte ich die Normalität in 2020 bewahren können, oder? Ich war 5 Tage pro Woche vor Ort beim Kunden. Hatte zu keinem Zeitpunkt Angst um meinen Job. Wurde „befördert“. Andere haben ihre Jobs verloren, mussten ihren Alltag komplett neu sortieren und Träume aufgeben oder zumindest aufschieben, weil die Kinderbetreuung vom einen auf den anderen Tag nicht mehr extern stattfinden konnte. Dagegen klingen meine Erfahrungen wieder so banal, auch wenn ich vieles in diesem Jahr zum ersten Mal gemacht habe:

  • Carsharing
  • E-Golf fahren
  • selbst in Berlin Auto fahren
  • ganz allein wohnen
  • Tram fahren
  • in Berlin Bus fahren
  • Dating-App-Dates
  • Poledance für mich entdeckt

Aber besonders die Trennung nach zwölfeinhalb Jahren war einschneidend. Und sie war kein kurzes heftiges Ereignis sondern eher ein Tsunami, der seit Ende 2019 in mein Leben gerollt ist und immer wieder Teile davon mitgerissen hat. Zuerst wurde nur die gemeinsame Lebensplanung mitgerissen, dann die Liebesbeziehung und im September schließlich auch mein Zuhause.

Ich fühle mich entwurzelt. Und dabei lerne ich gerade „laufen“. Nicht im sportlichen Sinn. Ich lerne auf meinen eigenen zwei Beinen zu stehen. Pläne machen. Mein Leben regeln. Und auch wenn es wieder eine Projektwohnung, bzw. ein Serviced Apartment ist: im Juli bin ich innerhalb von Berlin umgezogen. Dieses Mal in eine Wohnung, die ich selbst gesucht und gefunden habe. Sie ist „mein Reich“. So viele Stunden mit mir allein war ich wohl noch nie in meinem Leben. Und ich finde mich die meiste Zeit nahezu unerträglich.

Und jetzt ist schon seit fast zwei Wochen wieder „Lock-Down“ in Deutschland. Und während das im Frühjahr für mich fast schon gleichbedeutend mit Freiheit war, ist es jetzt tiefe Dunkelheit. Aber ich kann darüber sprechen. Denn auch das habe ich in diesem Jahr gelernt: über die Themen sprechen, die mich bewegen.

2020 ist wirklich krass. Auch für mich.

Ein Gedanke zu „Das krasseste Jahr

  1. Ich freu mich von dir zu lesen! Ich mag was du schreibst 🙂
    Auch wenn es nur teilweise ein Anlass zur Freude ist, aber was will man von diesem Jahr auch erwarten…
    Ich mag das Laufen und Sprechen lernen dazu gerne. Klingt gut und beschreibt auch so so viel!
    Bin gespannt, wie es hier weitergeht hihi
    Alles Liebe!

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